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Artemis Wind

Im „Pflanzenfieber“
Am 28. April 2024 habe ich die Sonderausstellung „Pflanzenfieber“ im Pillnitzer Schloss bei Dresden besucht; eine Ausstellung rund um die Themen Nachhaltigkeit, Ökologie und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Das Erlebnis war beeindruckend genug, um mich zu einem ausführlichen Erfahrungsbericht zu bewegen, denn bereits der Schauplatz spielte eine spannende Rolle. Die Umgebung Im Garten Nachhaltigkeit und Zukunftsperspektiven im barocken Schlossgarten: Ausstellung und Ausstellungsort scheinen zueinander im Kontrast zu stehen. Das Außengelände strahlt in farbgesättigter Blütenpracht. Blatt- und Rankenornamente kleiden die historischen Gebäude aus den Lebzeiten Augusts des Starken. Eine Wasserfontäne schießt in die Höhe. Sauberfrisierte Heckengänge, abgezirkelte Beete, die Natur wirkt gezähmt. Pflanzen erfüllen einen rein ästhetischen Zweck. Dieser Schein trügt. Die botanische Forschung kann hier auf eine lange Tradition zurückblicken. Hinter einem Tannenwäldchen verbirgt sich das historische Palmenhaus. Heute haben Glashäuser ihren Zauber verloren. Viele verbinden sie mit einer künstlichen, naturentfremdeten Landwirtschaft. Bloß in Parks entfalten sie noch einen Funken Magie, wenn sie uns in die Fauna entlegener Erdregionen entführen. Die historischen Gewächshäuser dokumentieren den Beginn dieser Tradition. Während ich das Palmenhaus durchwandere, kann ich mir vorstellen, wie futuristisch das Glasdach einmal anmuten musste. Eine Ausstellung illustriert auf kreative und unterhaltsame Weise die Geschichte seit dem 19. Jahrhundert. Im Schlossmuseum fasziniert mich der Anblick einer fast zweihundert Jahre alten gepressten Wiesenblume vom königlichen Weinberg. Gleichzeitig führt der ordentliche Prachtgarten im Zentrum des Parks unser Verhältnis zur Natur plakativ vor Augen. Wir lieben die Natur. Und lieben sie zumeist doch nur als Objekt. Die Klimakriese stellt dieses Verhältnis in Frage. Die Natur wehrt sich gegen unsere Vorherrschaft, was auch immer wir überhaupt unter dem Begriff „Natur“ verstehen. Leblose Naturgesetze? Oder das mannigfaltige, nichtmenschliche Leben, das wir dieser leblosen Gewalt wie selbstverständlich zuordnen?
Im Wasserpalais Die Ausstellung im Wasserpalais findet in kühlen, lichtdurchfluteten Räumen statt. Die historische Einrichtung ist verschwunden. Trotzdem finden sich noch zahllose barocke bis klassizistische Spuren. Einzelne Zimmer präsentieren auch Möbelstücke des 18. Jahrhunderts. Die Chinoiserie-Ausstellung (eine Stilart, die sich an der ostasiatischen, besonders chinesischen Kunst orientierte und zwischen dem späten 17. und frühen 19. Jh. populär war) schließt direkt an. Außerdem integriert wurde ein Rundgang, der das schrillbunte Plastikdesign in DDR und BRD präsentiert. Von dort wird ein Bogen in die Gegenwart geschlagen, wo Plastik zum unübersehbaren Problem wird. Wiederum löst sich ein vermeintlicher Kontrast in eine ungeahnte Verbindung auf. Oft entsteht in Museen der Eindruck einer abgeschlossenen Entwicklung, die mit der Gegenwart endet. Nicht hier. Der Weg führt von barocken Lackarbeiten über retrofuturistische Plastikstühle über die Gegenwart in eine noch ungewisse Zukunft. Kunstobjekte, Design- und Alltagsgegenstände, ökologische Materialien und Visionen, die einem Solarpunkroman entsprungen sein könnten, dokumentieren die Entwicklung. Es ist, als könnte man in den historischen Räumlichkeiten nicht bloß die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft besichtigen. Und immer noch steht diese Zukunft in der Tradition eines uralten Traums von der Harmonie zwischen Mensch und Natur. Das Phänomen, dass besonders die Vergangenheit unsere Sehnsucht anzieht, lässt sich seit der frühen Neuzeit beobachten. In der Renaissance ist es die Widerentdeckung der Antike, im deutschen Sturm und Drang die des volkstümlich und ursprünglich anmutenden Mittelalters. Besonders die europäische Romantik ist geprägt durch die Vorstellung einer verlorenen Vergangenheit, in der die Zivilisation mit der Natur im Einklang stand. Woher kommt diese Neigung zur Sehnsucht nach dem Verlorenen? Warum unternehmen wir nicht die Anstrengung, es wiederzuentdecken? Genau das setzen die Ausstellungsobjekte um.
Die Ausstellung Die Pflanze als Material Die ersten beiden Ausstellungsräume legen ihren Fokus auf ökologische Materialien. Ich starte meinen Rundgang vor drei Krügen aus Kopalharz, Bois Durci, Holzfasern, Schellack, unglasierter Keramik und Kolophonium. Die Objekte gehören zur Kollektion Botanica. Die Designerinnen Andrea Trimarchi und Simone Farresin haben sich bei der Gestaltung von einer vorindustriellen Epoche inspirieren lassen. Die Oberflächen wirken lederartig. Auf den ersten Blick könnte es sich um prähistorische Relikte handeln. Auf den zweiten Blick wird eine durchdachte Ästhetik deutlich, die über den praktischen Nutzen hinausgeht: blattförmige Verzierungen, angedeutete Blütenkelche und Schuppenkleider. Die Objekte werfen Fragen auf, Fragen an unsere Gegenwart: Brauchen Produkte wirklich knallige Farben, um ansprechend zu sein, wie gerne behauptet? Beweist unsere Vorliebe für Altstädte, Museumsdörfer, auch für historisierende Fantasy nicht das Gegenteil? Die Räume werden von Naturfarben dominiert, von fortschrittsgewandten Rückbesinnungen: gewebte Kiefernrindenhandschuhe, Sneakers aus Mais und Ananasblattfaser, rustikale Birkenmöbel. Allein die Modedesignerin Liselore Frowijn beweist, dass Extravaganz auch ökologisch geht. Das Stück aus ihrer Mexico Collection besteht aus einem sackartigen Rock und einem bikinigroßen Oberteil mit Schulterträger. Alles glänzt silbern. Wer jedoch genauer hinsieht, erkennt an den Nähten die faserige, an Papier erinnernde Konsistenz des Stoffes. Das Kleid besteht aus Piñatex, einer veganen Lederalternative aus Ananasblattfaser und Polymilchsäure. Spannend ist außerdem das „Menu from the new wild“ von Alexandra Fruhstorfer. Dabei handelt es sich um kein Objekt, obwohl ein dazugehöriges Geschirr gestaltet wurde. Das Menü fällt allerdings ehr durch die vorgeschlagenen Speisen auf: Buchstaben-Schmuckschildkrötensuppe, gebratener Waschbär, Japanischer Staudenknöterich vorgeschlagen und zum Nachtisch „Samen auf einer Creme vom Indischen Springkraut“. Wer bei Schildkrötensuppe an Wilderei denkt, muss wissen, dass es sich um invasive Spezies handelt: solche, die sich unkontrolliert vermehren und eine Gefahr für die heimische Flora und Fauna darstellen. Fruhstorfers „Menu from the new wild“ basiert auf der Idee, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, indem wir uns zu Fressfeinden solcher Arten machen und gleichzeitig unseren Lebensmittelbedarf decken.
Im zweiten Raum werden korb- und binsengewebte Kleidungs- und Schmuckstücke, auch Lampen und Behälter präsentiert. Die Modekollektion The Harvest entstand in einem Workshop unter der Leitung von Emma Bruschi aus Pflanzen der Pillnitzer Umgebung. Fotografien zeigen Personen in korbgeflochtenen Westen mit Strohkränzen oder aufwändigem Kopfschmuck. Wie die Krüge aus Botanica entsteht eine eigene Ästhetik, die an vorindustrielle Völker erinnert. Dass der europäische Kolonialismus viele traditionelle Techniken, darüber hinaus auch respektvollere Umgangsweisen mit der Natur verdrängt hat, ist ein Problem, das zunehmend erkannt wird. Das Studio dach&zephir der beiden Künstler Dimitri Zephir und Florian Dach hat sich in dem Projekt Éritaj Kontré auch damit auseinandergesetzt und die Beziehung zwischen Frankreich und dem Archipel Guadeloupe beleuchtet. Entstanden sind Kokosnussblattgeflochtene Korbschalen – ein traditionelles westindisches Material – kombiniert mit bemalten Porzellantellern. Die Pflanze als Partnerin Der Rundgang führt weiter in einen Dschungel aus fantasievollen, pflanzeninspirierten Einrichtungsgenständen: Blumentöpfe auf mangrovenbaumartigen Stängeln sehen aus, als könnten sie gleich auf ihren Stelzen durchs Zimmer starken. Die futuristischen Möbelstücke werden wie selbstverständlich ergänzt durch einen Blumenständer im Jugendstil, entstanden um 1900. Die Pflanzenornamente, auf denen die Eisenschale sitzt, fügen sich hervorragend in die Raumdekoration ein und beweisen wiederum, dass die Sehnsucht nach einem naturnahen Leben kein Phänomen der Gegenwart ist. Sie ist ein altes Symptom der menschlichen Zivilisation.
Aber ist es wirklich die Natur, zu der wir zurückwollen, wenn wir Rankenornamente entwerfen, die sich gleichmäßig geschwungen oder absichtsvoll chaotisch der gegenwärtigen Mode fügen? Wir schätzen die pflanzliche Schönheit und unterwerfen sie unseren Schönheitsidealen. „We have never been Individuals”, heißt es provokativ auf einem Wandbehang, entworfen von Natalia Cerda Milla. Zugegeben, der Text spielt in erster Linie auf unser symbiotisches Zusammenleben mit anderen Spezies an: „Wir sind niemals Individuen gewesen, sondern immer Teil eines Systems“. Trotzdem stellen die Kunstwerke die herausgehobene Stellung des Menschen in Frage. Mit welchem Recht objektivieren wir andere Lebensformen? Warum degradieren wir sie zur „Umwelt“? Wie der Rechtsstatus des Tieres zunehmend in die Kritik gerät, geschieht dies in den Ausstellungsräumen genauso für Pflanzen. Können wir die Pflanze nicht auch als Partnerin betrachten? Harpreet Sareen hat eine Maschine entwickelt, die nicht im Dienste des Menschen, sondern in dem der Pflanze steht: Dank Elowan sollen Topfpflanzen zum passenden Sonnen- oder Schattenplatz fahren können. Künstlerische Visionen und fantastische Utopien, die Natur und moderne Technik genauso miteinander verbinden wie Vergangenheit mit Zukunft, bilden den Abschluss des ersten Rundgangs. Die Software Florence von Helene Steiner kann nicht wirklich pflanzliche in menschliche Sprache übersetzen. Trotzdem ein interessantes Gedankenspiel: Eine Topfpflanze in einer Glaskugel ist mit einem Laptop verbunden. Der Bildschirm zeigt einen Chat an: „Willkommen in meinem Garten. Draußen ist es kalt. Ich wachse … “ Ob das digitale Mensch-Pflanzen-Interface jemals Wirklichkeit wird? – Wer weiß? Die Idee basiert auf der Erkenntnis, dass elektro-chemische Signale die Grundlage sind, durch die sowohl Pflanzen mit ihrer Umwelt kommunizieren als auch tierische und menschliche Organismus, das Gehirn inklusive. Ein Computer weist viele Parallelen auf. Vielleicht sind verschiedene Lebensformen am Ende doch nicht so verschieden? Marie Declerfayt macht sich die Entdeckung zu Nutze, dass Menschen und Pflanzen ähnliche Gefäß-Strukturen haben. Sie entwickelt darauf die Idee einer posthumanen Mensch-Pflanze-Hybridität, ähnlich einem Cyborg, der anstelle der technischen Implantate Pflanzenprothesen trägt. Auf einem Tisch sind künstliche Knochen aus Holz ausgestellt. Manche zeigen Pflanzenfortsätze: aus einem Armknochen sprießt ein Zweig. Fingierte Röntgenaufnahmen zeigen ebenfalls Blätter und Blüten, die aus Knochen wachsen.
Recycling Ein zweiter Rundgang geht in die entgegengesetzte Richtung. Nicht bloß räumlich, denn hier geht es nicht um neue, sondern um alte Materialien. Genau genommen um Recycling. Dieser zweite Abschnitt der Ausstellung startet im goldenen Zeitalter des Plastiks: kräftige Farben und ausgefallene Formen. Die Polyurethan-Möbel werden zunächst als Designrevolution gefeiert. Bereits in den Siebzigern sinkt jedoch das Interesse, auch aufgrund des erwachenden Umweltbewusstseins. Nach einem Comeback als Vintage in den Neunzigern werden sie heute zum Problem. Der Verein Konglomerat e.V. bietet in seiner Kunststoffschmiede die Möglichkeit des recycelten Eigenbaus. Alle Stücke sind individuell und nachhaltig. Ausgestellt sind einige Erzeugnisse des Projekts. Auch 3D-Druck bietet Kreativität neue Möglichkeiten, die in Fotos und Kostproben präsentiert werden: einschmelzbare Möbel ab Stückzahl eins. Wiederum arbeiten Mensch und Roboter eng zusammen. Es wird deutlich, wie weitere Themen der Gegenwart, etwa künstliche Intelligenz, in die Ausstellung miteinfließen. Wie wird unsere Zukunft aussehen? Werden wir uns langfristig von der Massenfertigung befreien? Gelingt uns die harmonische Symbiose von Maschine, Mensch und Natur? Die Ausstellung Pflanzenfieber im Pillnitzer Schloss weckt zumindest diese Hoffnung. Ich verlasse sie mit einem zuversichtlichen Blick nach vorn. Ich habe anregende Ideen und spannende Ansätze gesehen, Projekte, die allen die Möglichkeit geben, unsere Zukunft mitzugestalten. Draußen erwartet mich wieder der Garten. Die Sonne fällt mir ins Gesicht, es riecht nach frischem Gras und einem Jahr, das jetzt im späten April gerade die Blüte seiner Jugend hat. Für mich riecht es nach tausend Chancen. Ich wünsche mir, dass noch tausend solcher Jahre folgen werden.
Die Ausstellung geht noch bis zum 3. November. Wer sie selbst besuchen möchte, findet alle wichtigen Informationen …
Neben Schloss Pillnitz verdankt die Ausstellung ihre Durchführung außerdem dem Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Beide Webseiten sind ebenfalls einen Besuch wert:
Die Kuratin übernahmen Laura Drouet und Olivier Lacrouts (d-o-t-s):
Die Produktion das belgische Centre d’innovation et de design (CID):
Weitere spannende Links zu den Künstler*innen, Designer*innen und Ausstellungsstücken: